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„Jedes Objekt, von welcher Art es auch sei,
z. B. jede Begebenheit in der wirklichen Welt,
ist allemal nothwendig und zufällig zugleich:
nothwendig in Beziehung auf das Eine, das ihre Ursache ist;
zufällig in Beziehung auf alles Uebrige. [...]
Sowenig daher, wie ein absolut Nothwendiges,
ist ein absolut Zufälliges denkbar.“
(Arthur Schopenhauer, 1859) 1

„Alles Wirkliche ist zufällig.“
(Fritz Mauthner, 1913) 2

„Grundsätzlich gibt es keinen Zufall;
einen Zufall gibt es nur für uns.
Der Zufall ist ein menschlicher Begriff.“
(Fritz Mauthner, 1910/11) 3

„Es gibt [...] gar keinen Zufall.
[...]
es gibt immer nur den Zufall,
den wir durch die Zerstörung von Formen künstlich geschaffen haben.“
(Jean Baudrillard, 1985) 4

Im Jahr 1997 hat der in Salzburg lebende Fotokünstler Andrew Phelps vom Fenster in einem der oberen Stockwerke eines Hotelhochhauses, das abgerissen werden sollte, Blicke auf die Stadt fotografisch aufgezeichnet. Die Abzüge sind nicht fixiert worden, so dass die Ansichten nach und nach verschwanden und in ein Dunkel übergingen, wie beim mehrmaligen Besuch der Ausstellung zu beobachten war. 5 Mit der unfertigen Ausarbeitung, die ein Verschwinden der Bilder provozierte, artikulierte der Künstler seinen Protest gegen die Demolierung des Gebäudes, indem er eine Dekonstruktion des Objekts vorwegnahm. Mit der Implantierung eines ‘Fehlers‘ im fotografischen Prozess wurde ein stadtplanerischer Unsinn gebrandmarkt. Der Verzicht auf eine korrekte Fertigstellung des Positivs, das zunehmend einem Negativ glich, das irrtümlich Licht ausgesetzt gewesen ist, geschah mit voller Absicht und war im Hinblick auf das Konzept notwendig. Das Ergebnis der nicht vollendeten Prozedur war absehbar, ja, Phelps wusste bereits vor der Herstellung der Abzüge, wie diese nach geraumer Zeit aussehen würden.

Andrew Phelps: „Disfunction“, unfixierte S/W-Fotografie, 1997 Andrew Phelps: „Disfunction“, unfixierte S/W-Fotografie, 1997 Quelle

Eine solche Intervention – im gegebenen Fall eine Auslassung ­– im Vorgang der fotografischen Bildproduktion kommt in der Regel nicht vor. Wenn die bildlichen Aufzeichnungen auf dem Abzug nicht mehr oder nur unvollständig sichtbar sind, beispielsweise wenn Abzüge wegen zu intensiver Lichteinwirkung oder mangelhafter Ausarbeitung ausbleichen, ist dies üblicherweise die Folge von geringen Kenntnissen, Unachtsamkeit, ungeschickter Manipulation, schadhaften Materials. Dieselben Ursachen können dazu führen, dass unscharfe Stellen im Bild aufscheinen, Farben verfälscht werden, Schlieren, Flecken und Lichthöfe auftreten. Ihr Vorkommen ist selbstverständlich niemals beabsichtigt, ganz im Gegenteil: Fabrikant, Fotograf, Laborant suchen solche Pannen auszuschließen, Lehrbücher liefern die entsprechenden Ratschläge. Sie beschreiben jeden Handgriff und empfehlen die besten Gerätschaften, Aufnahmematerialien und Chemikalien für die jeweiligen Anwendungen. Bereits die erste Anleitung zur Herstellung von Daguerreotypien, vom Erfinder verfasst, weist darauf hin, was vermieden werden sollte, beispielsweise „daß die mit den Fingern berührten Stellen des Baumwollen-Pfropfens beim Reiben auf die Platte kommen, weil der Schweiß Flecken erzeugt; auch muß man sich sehr hüten, auf die Platte zu hauchen oder zu spuken.“ 6

33-2 Anonym: „Pürg[g] Johannes-Kapelle restauriert 1892“ Quelle

Wenn doch ein Lapsus unterläuft, so geschieht es nicht mit Vorsatz. Die ungeschickte Handbewegung, der Griff zum falschen Plattenmaterial, ungenaue Einschätzung der Entfernung, das Verwackeln während des Aufnahmevorganges, eine Unachtsamkeit während der Vergrößerung, all dies und weitere Missgriffe kommen vor, ohne dass das Bewusstsein beteiligt ist, und entsprechen in keiner Weise einer Intention – sie geschehen ohne Absicht, also zufällig, und lösen Überraschung aus. Zum einen weil eine Kausalreihe mit einer anderen zusammengetroffen ist und es dadurch bei einer zu einer unvermuteten Unterbrechung gekommen ist. Die vorgesehene Folge von Schritten hat beispielsweise aufgrund einer fehlerhaften Mischung von Substanzen zu einer ungeplanten chemischen Reaktion und damit zu einem unerwarteten Ergebnis geführt. Zum anderen fällt der Blick nicht nur auf ein Bild, das Mängel aufweist, sondern im Mangel tritt das Bild des Fotografischen hervor. Die Fotografie zeigt ihre chemisch-technische Seite, die der Betrachter im materiellen Träger des Bildes erkennt. Er sieht das Foto als Foto und nicht bloß das Bild.

Peter Geimer hat erstmalig und aufschlussreich solche Einschnitte im fotografischen Prozedere untersucht und subsumiert sie unter dem Begriff der Störung. Weil dieserart Störungen in bestimmten Fällen nicht unbedingt als solche zu identifizieren sind, „es offenbar nicht mehr umstandslos möglich“ ist, „Fakten von Artefakten, Repräsentationen von Störungen zu unterscheiden“, kommt er zu dem Schluss, dass sie zum „Normalfall der Aufzeichnung“ gehören. 7 Dem ist nicht zu widersprechen, jedoch ziehe ich es vor, von Zufall zu sprechen, weil dieser in jede Fotografie Eingang findet, nicht nur wenn Fehler auftreten oder Umstände zum Tragen gekommen sind, für die sich keine Erklärungen finden. Es existiert nämlich keine Phase in der Geschichte und Gegenwart des Mediums, in dem seine Produkte nicht von Kontingenzen durchdrungen sind, angefangen bei der Realisierung von Ideen, über das Fotografieren, das Ausarbeiten und Bearbeiten von Negativ und Positiv, bis zum Betrachten der Resultate. Der Zufall ist das bestimmende Moment des Fotografischen. 8

Den Erfindungen von Daguerreotypie und Fotografie gehen immer wieder Entdeckungen voraus, die im Zuge des Experimentierens vielfach zufällig gemacht worden sind. Für das 19. Jahrhundert ist es allerdings nicht ungewöhnlich, dass Neuerungen nur gelegentlich auf ein planvolles Vorgehen zurückzuführen sind: „Die Erfindungen geschehn meistens durch bloßes Tappen und Probiren: die Theorie einer jeden wird hinterher erdacht; eben wie zu einer erkannten Wahrheit der Beweis.“ 9 So hat beispielsweise Joseph Nicéphore Niépce von 1816 an Versuche mit Papier, Glas-, Zink- und Zinnplatten als Bildträger angestellt, bevor ihm 1824 die erste Aufnahme nach der Natur auf einem mit Asphalt beschichteten Lithografiestein gelingt. 10 Wie auch immer: Vor der Erfindung, die etwas Neues schafft, und der Entdeckung, die auf etwas stößt, das allgemein oder dem Protagonisten nicht bekannt gewesen ist, liegt der Einfall. Und die Idee der fotografischen Bilder entstand bereits im 18. Jahrhundert und war eine literarische. Tiphaigne de la Roche beschreibt in Giphantie, 1760 in Paris erschienen, fiktional die Möglichkeit des Festhaltens flüchtiger Bilder.

Ich gebe nachfolgend die entsprechende Passage wieder, wie sie 1863 in der Zeitschrift Photographisches Archiv in einer deutschen Übersetzung erschienen ist. Daran schließen sich Berichte an, wie der Zufall Bayard, Daguerre und Talbot zu ihren Ideen und Erfindungen geführt hat. Man sollte sich vom anekdotischen Charakter der Überlieferungen nicht irritieren lassen. Denn soweit diese auf Aussagen der Betroffenen basieren, kann man annehmen, dass diese sehr wohl auf geplante Vorgehensweisen bestanden hätten, wären solche gegeben gewesen. Ein theoretisches Konzept gilt allemal attraktiver als das zufällige Auffinden von praktikablen Teilschritten im Experiment. Dies gilt nicht minder für spätere Erfinder wie Christian Schad und Man Ray, die 1919 beziehungsweise 1922 auf ihre Version des Fotogramms stießen.

Du weisst [...], daß die Lichtstrahlen, von den verschiedenen Körpern zurückgeworfen, ein Bild geben und die Körper auf allen glänzenden Flächen, z. B. auf der Netzhaut des Auges, im Wasser und in den Spiegeln abbilden. Die Elementargeister haben diese flüchtigen Bilder zu fixieren gesucht. Sie haben einen sehr feinen Stoff zusammengesetzt, der sehr klebrig und sehr geneigt ist, trocken zu werden und sich zu erhärten; mit Hülfe desselben wird in einem Augenblick ein Gemälde gemacht. Sie überziehen mit diesem Stoffe ein Stück Leinwand und bringen diese vor die Gegenstände, welche sie abbilden wollen. Die erste Wirkung der Leinwand ist diejenige eines Spiegels; man sieht darin alle nahen und fernen Körper, wovon das Licht ein Bild entwerfen kann. Aber was ein Spiegel nicht vermag, die Leinwand hält durch ihren klebrigen Überzug die Bilder fest. Der Spiegel gibt uns zwar die Gegenstände getreu wieder, aber er behält keinen zurück; unsere Leinwand gibt sie nicht weniger getreu wieder, aber hält sie auch alle fest. Diese Aufnahme der Bilder ist das Geschäft des ersten Augenblickes, die Leinwand nimmt sie auf. Man nimmt dieselbe auf der Stelle weg und bringt sie an einen dunklen Ort. Eine Stunde später ist der Ueberzug getrocknet und man hat ein Gemälde, welches um soviel schätzbarer ist, weil keine Kunst die Wahrheit desselben erreichen und die Zeit es auf keine Weise beschädigen kann. Wir nehmen aus der reinsten Quelle, aus dem Stoffe des Lichtes, die Farben, welche die Maler aus verschiedenen Materien ziehen, welche die Zeit niemals unverändert lässt. Die Genauigkeit der Zeichnung, die Mannigfaltigkeit des Ausdrucks, die mehr oder weniger kräftigen Pinselstriche, die Abwechslung in den Schattirungen, die Regeln der Perspective: dies Alles überlassen wir der Natur, welche mit jenem, sich immer gleichbleibenden, sichern Gange auf unsere Leinwand Bilder malt, welche die Augen täuschen und die Vernunft zweifeln machen, ob die sogenannten wirklichen Dinge nicht eine andere Art von Trugbildern sind, welche Augen, Ohren, Gefühl, ja, alle Sinne zusammen täuschen.“
Tiphaigne de la Roche, Giphantie, Paris 1760 [Gyphantie, oder die Erdbeschreibung, Ulm 1761], zit. nach: K. de Roth, „Beiträge zur Geschichte der Photographie. II. War der Franzose Tiphaine schon 1760 im Besitze des Geheimnisses der Photographie?“, in: Photographisches Archiv, 4. Jg., 1863, S. 107-110, hier S. 108-109 , Übertragung von K. de Roth nach: Mayer & Pierson, La Photographie, considérée comme art et comme industrie, histoire de sa découverte, ses progrès, ses applications, son avenir, Paris: L. Hachette et Ce., 1862, S. 8-10.

 

„In seinen freien Stunden widmete sich der Richter der Gartenarbeit. In diesem Garten standen Obstbäume, an denen herrliche Pfirsiche in der Herbstsonne reiften. Herr Bayard senior fand Gefallen daran, jedes Jahr einige Körbe von diesen schönen Früchten an seine Freunde zu schicken, und in seinem naiven Besitzerstolz war ihm daran gelegen, durch ein unverwechselbares Zeichen darauf hinzuweisen, daß diese Früchte aus seinem Obstgarten stammten. Zu diesem Zweck hat er ein eigenartiges Mittel erdacht, das nichts anderes war als ein echtes photographisches Verfahren, ohne daß der Richter sich dessen bewusst war. An einem Baum, dessen Früchte bald reif waren, wählte er einen Pfirsich, natürlich, wie man sich denken kann, den schönsten. Um ihn vor den Sonnenstrahlen zu schützen, wickelte unser Friedensrichter diese wunderbare Frucht sorgfältig in Blätter. Wenn nun der so vor direkter Sonnenbestrahlung bewahrte Pfirsich die gewünschte Größe erreicht hatte, wickelte er ihn aus den Blättern und setzte ihn dann nochmals der Sonne aus. Nur hatte er zuvor die beiden Anfangsbuchstaben seines Namens kunstvoll aus Papier ausgeschnitten und auf die Frucht geklebt. Wenn man nach ein paar Tagen dieses schützende Papier abnahm, hoben sich die beiden Buchstaben weiß von dem roten Grund des Pfirsichs ab, dem die Sonne so einen unauslöschbaren Stempel aufgedrückt hatte.
Dem jungen [Hipollyte] Bayard machte dieser Vorgang, dem er jedes Jahr beiwohnte, natürlich einen starken Eindruck.“
André Jammes, Hippolyte Bayard. Ein verkannter Erfinder und Meister der Photographie, [Aus dem Französischen von Getrud Strub], Luzern, Frankfurt/M.: C.J. Bucher, 1972 (Bibliothek der Photographie, hrsg. von Romeo E. Martinez, Bd. 8), S. 6-7, zit. nach: Georges Potonniée, Histoire de la découverte de la photographie, Paris 1925.

 

„Die Jodsilberplatten geben bei kurzer Belichtung kein sichtbares Bild. Daguerre mußte daher immer sehr lange belichten, um ein sichtbares Bild zu erhalten. Eines Tages wurde während einer Aufnahme das Wetter plötzlich trübe. Daguerre nahm also die zu kurz belichtete Platte wieder aus der Kamera und stellte sie in einen Schrank. Als er am nächsten Tag den Schrank wieder öffnete, fand er zu seinem größten Erstaunen das fertige Bild auf der Platte. Er vermutete gleich, daß in dem Schrank etwas sein müsse, was die Entstehung des Bildes verursachte. Er nahm nun der Reihe nach die Chemikalien nacheinander heraus, fand aber immer wieder das gleiche Ergebnis: Eine schwach belichtete Platte zeigte nach einigen Stunden das Bild. Schließlich war nur noch eine kleine Schale mit Quecksilber, das aus einem zerbrochenen Thermometer stammte, in dem Schrank übrig. Das brachte ihn auf die Vermutung, daß die Dämpfe des Quecksilbers die Ursache für die Entstehung des Bildes sein möchten. Er setzte also eine schwach belichtete Platte, die kein Bild zeigte, der Einwirkung von Quecksilberdämpfen in einem Kasten aus und erreichte damit die Entdeckung des latenten Bildes.“
Wolfgang Baier, Quellendarstellungen zur Geschichte der Fotografie, München: Schirmer/Mosel, 1977, S. 73.

 

„Daß ein wenig oder nicht sichtbares (latentes) Jodsilberbild durch Gallussäure entwickelt und gekräftigt werde“, entdeckt William Henry Fox Talbot am 20./21. September 1840 „einigermaßen durch Zufall.
Er beließ mehrere verschieden behandelte Blätter Papier, um sie auf ihre Empfindlichkeit zu prüfen, nur kurze Zeit in der Kamera und legte eines von ihnen, auf welchem kaum eine Bildspur zu erblicken war, beiseite. Als er es später wieder zur Hand nahm, sah er mit Erstaunen eine vollkommen ausgeführte negative Zeichnung darauf entstanden. Glücklicherweise erinnerte er sich vollkommen der Bereitungsart dieses Blattes und er konnte somit seine Entdeckung verfolgen.“
Josef Maria Eder, Geschichte der Photographie, Erste und Zweite Hälfte, 2 Bde., Halle (Saale): Wilhelm Knapp, 41932 (Ausführliches Handbuch der Photographie, Bd. 1, Teil 1), S. 439.

 

„Als ich beim spielerischen Arrangieren dieser meiner Fundsachen bemerkte, daß sie unter der Einwirkung des Lichtes sich auf dem damals gebräuchlichen Photopapier unmittelbar in einer ganz neuen Wirklichkeit abbildeten, begann ich mit den verschiedenen Materialien, lichtdurchlässigen und kompakten, zu experimentieren.“
Christian Schad, „Zur Entdeckung der Schadographien“ [1980], in: Floris M. Neusüss in Zusammenarbeit mit Renate Heyne, Das Fotogramm in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Die andere Seite der Bilder – Fotografie ohne Kamera, Köln: DuMont Buchverlag, 1990, S. 22.

 

„Zum Glück brauchte ichvon meinen großen Platten nur Kontaktabzüge zu machen. Beim Licht meiner kleinen roten Laterne legte ich das Glasnegativ einfach auf ein Blatt lichtempfindliches Papier auf dem Tisch, schaltete für ein paar Sekunden die von der Decke herunterhängende Glühbirne ein und entwickelte dann die Abzüge. Beider Herstellung dieser Abzüge machte ich zufällig auch die Entdeckung des rayographischen Verfahrens oder der kameralosen Photographie. Ein unbelichtetes Blatt Photopapier war unter die belichteten Blätter und mit ihnen in die Entwicklerpfanne geraten – ich machte immer zuerst einige Belichtungen und entwickelte sie dann später zusammen –, und nachdem ich einige Minuten vergeblich darauf gewartet hatte, daß ein Bild erschien, und schon die Papierverschwendung bedauerte, legte ich unwillkürlich einen kleinen Glastrichter, den Meßbecher und das Thermometer in die Schale auf das durchnäßte Papier. Ich schaltete das Licht ein, und da entstand vor meinen Augen ein Bild, nicht bloß eine einfache Silhouette wie bei einer konventionellen Photographie, sondern eine durch das mehr oder weniger mit dem Papier in Berührung gekommene Glas verzerrte und gebrochene Form, die sich vor einem schwarzen Hintergrund abhob, dem Teil, der dem Licht direkt ausgesetzt gewesen war. Mir fiel ein, wie ich als Junge Farnblätter in einen Kopierrahmen auf Probenpapier gelegt hatte, das ich dem Sonnenlicht aussetzte, und auf diese Weise ein weißes Negativ der Blätter erzielte. Die Idee war die gleiche [...].“
Man Ray, Selbstporträt. Eine illustrierte Autobiographie [Man Ray – Selfportrait, 1963], Aus dem Amerikanischen übertragen von Reinhard Kaiser, München: Schirmer/Mosel, 1983, S. 122-125.

 

Der Zufall findet aber auch Eingang in jede einzelne Fotografie. Denn die meisten Details, die sich vor dem Objektiv beziehungsweise innerhalb des gewählten Ausschnitts befinden, kann der Fotograf schon wegen ihrer Zahl und erst recht, wenn es sich um rasch bewegte Gegenstände handelt, nicht wahrnehmen. Er konzentriert sich auf sein Objekt und dessen wesentliche Ausformungen. Doch all die unzähligen Kleinigkeiten sowohl innerhalb des eigentlichen Motivs sowie neben diesem, kann er nicht registrieren. Sie geraten also zufällig ins Bild. Und quantitativ betrachtet, handelt es sich dabei um das Gros der Erscheinungen.

Théodore Rivière: Loie Fuller, um 1896 Théodore Rivière: Loie Fuller, um 1896 Quelle

Talbot weist bereits in The Pencil of Nature von 1844/46 auf diesen Umstand hin: „Es geschieht häufig – und macht einen Reiz der Photographie aus –, daß der Photograph selbst, und unter Umständen erst nach langer Zeit, bei der Nachprüfung entdeckt, daß er viele Dinge mit aufgenommen hat, die ihm seinerzeit gar nicht aufgefallen waren.“ 11 Der Schriftsteller Emile Zola, der selbst fotografiert, äußert sich 1900 ähnlich in einem Interview: „Meiner Meinung nach kann niemand behaupten, einen Gegenstand wirklich gesehen zu haben, wenn er von ihm nicht eine Photographie gemacht hat, denn sie offenbart eine Fülle von Details, die sonst gar nicht wahrgenommen würden.“ 12 Der deutsche Fotograf Walter Hege macht 1935 dieselbe Erfahrung: „Auf dem Negativ entdeckte ich zu meinem Erstaunen Schiffe auf dem Wasser weit hinter den Tempeln, die ich mit bloßen Augen bestimmt nicht gesehen hatte.“ 13

Jules Déplanque: Markt in Paris, um 1865 Jules Déplanque: Markt in Paris, um 1865) Quelle

Obgleich ähnliche Bekenntnisse anderer Bildautoren vorliegen und die Differenz in der Wahrnehmung von Vorbild und Bild mit Sicherheit jedem, der fotografiert hat, schon aufgefallen ist, hat man diesem Fakt in den theoretischen Erörtungen zur Fotografie kaum Aufmerksamkeit gezollt. Lediglich Katharina Sykora hat ostentativ darauf verwiesen: Es fehle, bemerkt sie 1977, „[...] dem Fotografen notwendig der ‘Überblick’ über die unendliche Zeit, um einen bewußten, künstlerisch kalkulierten Zeitausschnitt zu wählen, der seine Intention spiegeln kann. Der Aspekt des Zufalls wird hierdurch im Moment des Auslösens impliziter Teil des fotografischen Handelns. Dasselbe gilt für die vergleichsweise geringe Kapazität des natürlichen Auges, das sich auch beim Blick des Fotografen durch das Kameraobjektiv einschränkend vor die Linse des Apparats schiebt. Die Maschine hält immer mehr fest, als der Fotografenblick sehen kann.“ 14 Dieser Überschuss kann nicht geplant oder vorausgesehen werden, er ergibt sich durch Zufall. Und auch wenn der Überschuss nicht augenfällig ist, zeichnet er jedes fotografische Bild aus. Die nicht intendierten Details in einer Aufnahme machen erst den Realitätseffekt aus. Denn auch das Bewußtsein um die alltägliche Wirklichkeit konstituiert sich über die Gewissheit, dass mehr vorhanden ist, als man wahrnimmt.

Wie die Fotografen entdecken auch jene Personen ein Mehr an Informationen, die das Motiv aus eigener Anschauung kennen. Der englische Schriftsteller und Kulturkritiker John Ruskin etwa, der einem fotografierenden Adlatus die Bildobjekte vorgibt, notiert 1845 in Venedig: „Ich war heute den ganzen Tag auf dem Markusplatz und finde jetzt auf der Daguerreotypie eine Reihe von Dingen, die ich auf dem Platz selbst nicht gemerkt habe. Es ist ein so großes Glück, sich auf alle Informationen verlassen zu können [...]“ 15 Und 1866 schreibt Gustave Flaubert in einem Brief: „Ich glaube, dass im allgemeinen (was man auch sagen mag) die Erinnerung idealisiert, das heißt auswählt. Aber vielleicht idealisiert das Auge auch? bebachten Sie unser Erstaunen angesichts eines photographischen Abzugs. Er ist nie das, was man gesehen hat.“ 16

Unbekannter britischer Fotograf: Prince Arthur, um 1853Unbekannter britischer Fotograf: Prince Arthur, um 1853 Quelle

Ohnehin gibt sich der Zufall im einzelnen nicht zu erkennen. Denn von keinem Detail ist mit Bestimmtheit zu sagen, ob es beiläufig – also ohne Absicht des Bildautors – ins Bild eingegangen ist oder es der Fotograf vor dem Aufnahmevorgang bewusst wahrgenommen hat. Insofern ist vom Standpunkt des Betrachters das Zufällige vom absichtsvoll Registrierten nicht zu unterscheiden. Das eine wie das andere verbirgt sich hinter einer Ordnung, deren Regel Talbot 1844/46 formuliert hat: „[...] das Instrument registriert alles, was es wahrnimmt [...]“ 17 Es ist das Prinzip der Vollständigkeit, dem die Kamera teilnahmslos anhängt: In der Fotografie tritt der Zufall als Teil einer bildlichen Ordnung auf, in der er unsichtbar aufgehoben ist.

Ein durchaus Eigenes ist demgegenüber der Zufall, der sich beim Betrachten eines Bildes einstellt. Plötzlich fällt der Blick auf eine Einzelheit, die den Gesamteindruck durchstößt und dem Bild neue Bedeutung verleiht. Roland Barthes hat ihm einen Namen gegeben: „Dieses ‘Detail’ ist das punctum (das, was mich besticht).“ 18 Das punctum kann weder seinem Inhalt noch seiner Form nach eine allgemeine Bestimmung erfahren, es ist für den Außenstehenden nicht zu verorten, sondern ersteht ausschließlich im individuellen Blick. Der Zufall trifft nur den, der ihn merkt. „[...] wie ich immer denke, daß der Zufall etwas sehr Persönliches ist, etwas, das nur mir zufällt. Ich glaube, daß es nicht den Zufall gibt, der im gebräuchlichen Sinne zufällig ist, sondern daß er wirklich auf die jeweilige Person, auf die augenblickliche Verfassung und die Konstitution gemünzt ist.“ 19

Barthes’ punctum ist keine Besonderheit des Fotografischen, sondern eine der Wahrnehmung von Artefakten. Auch aus einem Gemälde mag dem Betrachter ein Detail ins Auge stechen und seine Auffassung des Bildes verändern. Bei fotografischen Hervorbringungen fasziniert das punctum vor allem, weil sein Vorhandensein selbst ein zufälliges sein kann und sich nicht der Intention oder Aufmerksamkeit des Fotografen verdankt, sondern der Konstitution der Apparatur. Denn „[e]s gibt keinen Zufall in der bildenden Kunst“, wie Hans Ulrich Reck richtig feststellt, „vieles sieht nur so aus, als ob es damit zu tun hat.“ 20

Um so mehr haben Künstler immer wieder Versuche unternommen, den Zufall ins Spiel zu bringen – man denke neben anderem an die Anthropometrien von Yves Klein, die écriture automatique der Surrealisten oder manche Kreationen der Dadaisten. Wenn beispielsweise Hans Arp 1920 ein Blatt Papier zerreisst, die Schnitzel auf den Boden fallen lässt und sie anschließend in dieser zufällig entstandenen Anordnung auf eine Unterlage klebt, 21 hält er zwar wie ein Fotograf Vorgefundenes fest. Doch er hat vor dem Akt der Bildproduktion sämtliche Papierstücke einzeln und in ihrer Konstellation zueinander gesehen, so dass nichts Zufälliges Eingang in das Werk gefunden hat. In diesem Fall repräsentiert das Bild einen Zufall, der mit Absicht in dieses getragen worden ist – es ist von einem Zufall als Bild zu sprechen.

Walter Ebenhofer: „Bis in die letzte Ritze, Schussbild 10“, 1999 Walter Ebenhofer: „Bis in die letzte Ritze, Schussbild 10“, 1999 Quelle

Hinter solchen Inszenierungen des Zufalls steht das Bestreben, ihn zu bändigen, indem er vollständig bloßgestellt wird, das heißt ihn gewissermaßen zu überwinden, indem er sichtbar gemacht wird. Konzeptionell arbeitende Fotokünstler sind dabei unterschiedliche Wege gegangen, indem entweder – wie von Walter Ebenhofer praktiziert – das Dia-Material nicht in der Kamera, sondern durch ein in seiner Wirkung nicht abschätzbares Ereignis – im gegebenen Fall durch Beschuss – dem Licht ausgesetzt wird. Oder – wie von Andreas Müller-Pohle gehandhabt – der Auslöser aus einer Bewegung heraus betätigt wird, ohne er dabei durch den Sucher blickt. „Statt zu zögern, statt innezuhalten, zu kalkulieren, hat er sich ‘bedenkenlos’ mit dem Zufall eingelassen, um diesem später, mit Bedacht, Form und Gestalt zu verleihen.“ 22 Was auch – wendet man Vilém Flussers Einschätzung – bedeutet: Im Zögern des Fotografen liege die Utopie, den Zufall auszuschließen.

Andreas Müller-Pohle: „Transformance 7389 (New York)“, 1982 Andreas Müller-Pohle: „Transformance 7389 (New York)“, 1982 Quelle

Das Ergebnis – bei den beiden genannten Künstlern und anderen, die auf dieselbe Weise Projekte realisieren – sind jeweils abstrakte Bilder, die sich vollständig dem Zufall verdanken, zumal kein Blick jemals die Vorbilder hat erfassen und auch keine Phantasie sie hat ausmalen können. Zugleich belegen solche Produkte, dass der Zufall nicht festzumachen ist. Denn um ihn identifizieren zu können, müsste er neben etwas zum Vorschein kommen, das sich nicht zufällig abgebildet hat. Nur im Aufeinandertreffen „zweier nicht füreinander gebauter Kausalverhältnisse“ in der Zeit ist von Zufall zu sprechen. 23 Die erwähnten fotografischen Hervorbringungen bedienen sich lediglich des Begriffs des Zufalls, dessen sie bildlich nicht habhaft werden können.

Was abstrakte Bilder und nicht-abstrakte gleichermaßen auszeichnet: Das Zufällige in ihnen entäußert sich nicht als solches. Sämtliche Erscheinungen sind denselben Regeln fotografischer Aufzeichnung verpflichtet, egal nach welchen Maßgaben sie ins Bild geraten sind. Indem Fotografien nach den Gesetzen der Optik, Physik und Chemie hervorgebracht werden und unverändert bleiben, wird ein Zustand der Ordnung konstatiert und zur Darstellung gebracht. Der Zufall fügt sich, indem er nicht auszumachen ist, nur scheinbar dieser Ordnung. Er steht für die Geheimnisse, die jedes Bild enthält, für die Fragen nach dem Vorher, nach dem Ansinnen des Fotografen, nach der Verfassung der Objekte. Die Bilder zeigen nur den Fall, der Zufall stattet sie mit einem Mehr aus, bringt Fiktives ins Bild, er verkörpert das Unwägbare im Vergangenen, das utopische Moment alles Gewesenen. Die Poesie der Fotografie liegt nicht zuletzt in den Zufällen, die zu ihr geführt haben.

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Antonio Beato: Mameluckengräber mit Fliege,
um 1870 Quelle

Harald Fuchs: „Nevada, 2003, Fotoleinwand mit Giessharzoberfläche (ca. 8 mm), darin sind zahlreiche Laborfliegen eingegossen“ Quelle

 

8.8.2009 / 22.6.2010

© Timm Starl 2009

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