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„Mache Bilder vom Kaleidoskop“
(William Henry Fox Talbot, 1839) 1

Der schottische Physiker David Brewster taucht in den Fotogeschichten an diversen Stellen auf, insbesondere steht er für die Erfindung des Linsenstereoskops von 1844 und der zweiäugigen Stereokamera drei Jahre darauf. Was ihn ständig begleitet, ist eine Bemerkung im Nebensatz oder am Rande, er habe 1817 das Kaleidoskop konstruiert. Dass auf dieses nicht näher eingegangen wird, liegt an seiner Klassifizierung als Spielzeug. Zweifellos fand es rasch Eingang in die Kinderstuben seiner Zeit und rangiert auch heute noch unter den ständigen Angeboten auf Kirtagen und Weihnachtsmärkten. Doch der Zeitpunkt seines Aufkommens und die Struktur der Bilder, die das Kaleidoskop liefert, machen es zu einem optischen Instrument, in dem die Sehbedürfnisse am Beginn des 19. Jahrhunderts ihren beredten Ausdruck finden. Spielerisch erfahren die Zeitgenossen, welche neuen Momente für den zukünftigen Bilderkosmos bestimmend sein werden.

Datum und Machart weisen bereits Parallelen zur Fotografie auf. Die Geburtsstunde des Kaleidoskops liegt nur ein Jahr nach den erstmaligen Versuchen von Nicéphore Niépce mit der Kamera. Die Form des Rohres entspricht dem zylindrisch ausgeführten Apparat, mit dem Carl August Steinheil 1839 in München Aufnahmen angefertigt hat, und ähnelt der doppelt-konischen Form der Kamera, die Voigtländer & Sohn 1841 auf den Markt gebracht haben und die beide runde Bilder liefern. Spiegel werden ebenfalls in manchen Daguerreotypie-Kameras verwendet, wo sie eine seitenrichtige Darstellung gewährleisten oder Linsen ersetzen sollen. Gleichermaßen garantiert da wie dort das Licht die Entstehung der Bilder. Doch die Analogien technisch-physikalischer Natur lassen sich ebenso für andere Instrumente – wie Mikroskop und Teleskop – anführen, die beiden Erfindungen vorausgegangen sind. Auch der „Tunnel“, wie Heinz Buddemeier den dunkel gehaltenen Raum zwischen Auge und Bild bezeichnet, 2 ist als Vorrichtung dem früheren Guckkasten ebenso eigen wie dem Diorama von 1822.

Was das Kaleidoskop gegenüber den meisten, hier erwähnten Konstruktionen wesentlich unterscheidet, ist die Autonomie des Benutzers, der – ohne dass Vorkenntnisse erforderlich sind – jederzeit über seinen Gebrauch verfügen kann. Er fungiert als Produzent und Rezipient in einem, und vor allem: Er agiert für sich. Er tätigt jeden Handgriff selbst und ist der erste beziehungsweise einzige, der die Ergebnisse zu sehen bekommt. In ihm ist die Figur des Knipsers vorgezeichnet, der seine Aufnahmen selbst fertigt, ohne auf Gestaltungsfragen groß zu achten, und hauptsächlich zum eigenen Vergnügen herstellt, also nicht öffentlich macht. Indem das Bild des Augenblicks mit seiner Wahrnehmung zusammenfällt, mag sich schon jene spätere Sehnsucht der fotografierenden Millionen andeuten, die im digitalen ‘Sofortbild' ihre Erfüllung findet.

Worin Kaleidoskop und Kamera sich noch nahe sind, ist ihre Funktion als Produktionsmittel, das Bilder hervorbringt, die ihre ‘Vorbilder' auf je eigene Weise in neue Räume überführen. Beide übersetzen ihre Objekte in flächige Darstellungen und verfremden sie damit. Im Kaleidoskop wird zudem das Vorbild in – je nach Anzahl der Spiegel – mehrfacher und sich symmetrisch aneinander gefügter Ausführung wiedergegeben. Der fotografische Apparat wiederum liefert Wiedergaben in verkleinerter Form, in besonderer perspektivischer Übersetzung, zunächst ohne Farben. Mit dem Kaleidoskop wird der Betrachter damit vertraut gemacht, das Reale zu abstrahieren, will man die Wirklichkeit der Bilder als sein Äquivalent ansehen.

Entscheidend für die Konstitution des kaleidoskopischen Bildes ist der Zufall, der sich in der Fotografie gewöhnlich nur in Schnappschüssen und Kurzzeitaufnahmen zu erkennen gibt. Zwar initiiert der Benutzer manuell, dass ein Bild entsteht, doch vermag er im Augenblick des Auslösens nicht zu erkennen, wie das Ergebnis in allen Details beschaffen sein wird, obwohl sich diese vollständig im Blick befinden. Dies macht neben anderem den besonderen Zauber der Fotografie aus, hat schon die ersten Kommentatoren begeistert und die meisten Lichtbildner erkennen lassen: Dass in die Aufnahme etwas eingegangen ist, was vorher nicht wahrgenommen werden konnte.

Walter Benjamin hat die Rolle des Aleatorischen als bezeichnendes Element für die Bilder des 19. Jahrhunderts angedeutet, wenn er dem Passagen-Werk eine Grafik von 1819 beigegeben hat: „Le triomphe du Kaléidoscope ou le tombeau du jeu chinois“. 3 Eine junge Frau hält ein Kaleidoskop in der Hand und setzt einen Fuß auf den am Boden liegenden Chinesen, der Figuren aus drei- und viereckigen Plättchen zusammensetzt. Bedeutet wird der Sieg des Zufalls über die Kreativität, die Auslieferung an die Vielfalt der Kleinigkeiten und deren zufälliges Nebeneinander im Bild und Nacheinander als Bild gegenüber dem absichtsvoll geformten und nachvollziehbaren Konstrukt.

Die Mannigfaltigkeit und Buntheit kennzeichnet auch die metaphorische Verwendung des Begriffs, wie sie noch heute gängig ist. Hämisch hat es Gustave Flaubert in seinem Dictionnaire des idées recues gemeint und zielte wohl auf den aufkommenden Eklektizismus ab Mitte des 19. Jahrhunderts: „Kaleidoskop: Nur im Zusammenhang mit Kunstausstellungen.“ 4 Während Brewster die erkenntniskritischen Aspekte, zu denen seine Erfindung den Ausgangspunkt abgeben könnte, im Sinne hatte, als er sie als „philosophisches Universalinstrument“ bezeichnete. 5 In dem kombinatorischen Spiel, das auch den Experimenten jener Jahre eigen ist, treffen sich Aufklärung und Romantik und weisen auf die spätere Fotografie, deren beider Kind sie ist.

24.6./ 11.9.2008

© Timm Starl 2008

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