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„Sie kaufte sich einen Plan der Stadt Paris und machte auf demselben mit dem Finger Spaziergänge in der Hauptstadt. Sie besuchte die Boulevards, blieb an jeder Ecke stehen, verfolgte die Gassenzüge und verweilte vor den größeren Vierecken, die bedeutendere Gebäude vorstellten.“ 1 In Gustave Flauberts Roman von 1857 sucht Emma Bovary der kleinbürgerlichen Enge und der Langeweile ihres Alltags zu entkommen, indem sie in Gedanken die französische Metropole aufsucht und durch die Straßen streift. Sie kennt die Stadt ebensowenig aus eigener Anschauung wie der Bostoner Schriftsteller und Arzt Oliver Wendell Holmes jene Orte, die er auf Stereofotografien entdeckt und worüber er 1859 schreibt: „Ich krieche über die Riesenzüge von Ramses an der Front seines aus dem Fels gehauenen nubischen Tempels; ich ersteige den riesigen Bergkristall, der sich Cheopspyramide nennt. Ich schreite die Länge der drei Riesensteine in der Mauer von Baalbek ab [...] Ich wandere durch die Rebenhänge des Rheinlandes. Ich sitze unter römischen Arkaden.“ 2

Was immer die Beweggründe der beiden Protagonisten gewesen sein mögen, sie treten in die Bilder ein, um in ihnen zu flanieren und sich umzusehen, sie begeben sich aus dem Raum, in dem sie sich befinden, in jenen der Phantasie, der sich über die schriftlichen oder fotografischen Darstellungen auftut. Auf diese Weise sind auch die ersten Produkte aus der Kamera gelesen worden: Man nahm eine Lupe zur Hand und über- beziehungsweise durchquerte das Bild, hielt dann und wann an, um ein Detail näher in Augenschein zu nehmen. Wie es der amerikanische Erfinder Samuel F.B. Morse praktiziert, nachdem ihm Louis Jacques Mandé Daguerre Anfang 1839 seine Aufnahme des Boulevard du Temple vorgelegt hat. „By the assistance of a powerful lens, which magnified fifty times, applied to the declination, every letter was clearly and distinctly legible, and so also were the minutest breaks and lines in the walls of the buildings, and the pavements of the streets.“ 3 Nicht anders verhält es sich, wenn man sich in eine Landkarte vertieft, einem Flußlauf, einer Straße oder einer Grenze folgt, um gelegentlich anzuhalten, sich zu orientieren und nachzulesen, welche Orte und Berge sich auf beiden Seiten befinden.

Man müsse in Karten ebenso die Dinge „anschauen“ wie in Bildern, verlangt Rudolf Arnheim, und was er für gemalte in Anspruch nimmt, gilt gleichermaßen für fotografische: „Ich bin offen für das, was mir die Landkarte zu sagen hat, und zwar auf die gleiche Weise, wie ich es gegenüber einem Gemälde bin [...]“ 4 Die Betrachtung von kartografischen und fotografischen Bildern läßt nicht nur die gleiche Lesart zu, sondern vermag auch gleichgeartete Imaginationen hervorzurufen. Wenn ich vorab behaupte, dass die Rezeption von Fotografien generell eine kartografische ist – ohne auf die Frage einzugehen, ob umgekehrt Karten fotografisch zu lesen sind –, sollten zwischen beiden Medien mehr als nur die erwähnten Analogien bestehen.

P. A. Leitner: ohne Titel, 1991 P. A. Leitner: ohne Titel, 1991 Quelle

Als der Physiker und Astronom Dominique François Arago am 3. Juli 1839 den Mitgliedern der Deputiertenkammer das Verfahren Daguerres anpreist, hebt er mehrfach die Genauigkeit der perspektivischen Wiedergabe hervor. „Und da die fotografischen Bilder nach den Regeln der Geometrie entstehen, erlauben sie, daß man mit Hilfe einer gegebenen Größe die genauen Abmessungen der höchsten und unzugänglichsten Gebäudeteile rekonstruieren kann.“ 5

Damit verweist er auf den Anteil der Fotografie an der Vermessung von architektonischen und geografischen Objekten, deren Potential nicht einmal zwei Jahrzehnte später in der Fotogrammetrie zum Tragen kommen und zur Herstellung von Landkarten unverzichtbar sein wird. Die Anwender des Verfahrens nutzen an der Fotografie die Fähigkeit der Bemessung des Raumes.

Kartografie und Fotografie bedienen sich zur Hervorbringung ihrer Bilder des gleichen Instrumentariums: der Minimierung und der räumlichen Reduzierung. Sie kennen nur die Oberfläche ihres Gegenstands, die sie maßstäblich verkleinern und als Blick von oben beziehungsweise aus unterschiedlichen Richtungen aufzeichnen. Dabei geht bei der Transformierung in die Fläche im einen Fall die Höhen-, im anderen die Tiefenstruktur verloren. Am nächsten kommen sich die beiden Medien in der Darstellung, wenn Landschaften aus großer Höhe und senkrecht nach unten fotografiert und neben Karten mit demselben Ausschnitt gestellt werden.

Wer eine Gegend kennt, findet sich trotz der Abstraktion in Karten und Fotos zurecht. Man weiß, wie hoch der Berg über dem Tal aufragt, wie weit das Gebäude von einem davorstehenden Baum entfernt ist. Sind der Ort und die Objekte nicht geläufig, müssen den Bildern erläuternde Hinweise beigegeben sein, damit für den Betrachter eine Vorstellung des Realen möglich wird. Die Bildlegenden sollten den Gegenstand identifizieren, und Informationen zum Modus der Aufnahme und Wiedergabe (Ausschnitt, Maßstab usw.) enthalten. Stadtpläne und Landkarten operieren zudem mit Einfärbungen: In Atlanten werden gewöhnlich Meere, Seen und Flüsse blau, Berge braun, Wiesen und Wälder grün, bebautes Terrain rot dargestellt. Dazu kommen verschiedentlich eingezeichnete Symbole, Meridiane und Höhenlinien, werden Seehöhen und -tiefen beziffert, Straßen nummeriert, einzelne Details benannt. Die Fotografie kennt gleichfalls Identifizierungen im Bild, insbesondere bei illustrierten Postkarten, wenn Erhebungen, Straßen oder Gebäude bezeichnet werden. Auch der menschlichen Staffage kommt in manchen Aufnahmen des 19. Jahrhunderts dieselbe Funktion zu, wenn sie gleichsam als Messlatte die Größenverhältnisse offenkundig werden lässt.

Was die Bilder oftmals wieder ins Abstrakte rückt – auch wenn der Gegenstand in der Legende bezeichnet und seine Lage bestimmt ist –, ist das Fehlen eines Datums. Vielfach ist zu Karten nicht angegeben, von wann die Vorlagen stammen, nach denen sie entstanden sind. Wie bei Fotografien oftmals nicht der Zeitpunkt der Aufnahme genannt wird. Ein Fluss kann sich im Zuge einer Überschwemmung eines neues Bett gesucht haben, ein Gebäude kann inzwischen abgerissen worden sein. Karten und Fotos sind Momentbilder, die einen bestimmten Zustand zu einem bestimmten Zeitpunkt aufzeichnen. Insofern müssen sie immer als historische Dokumente angesehen werden.

Alte Landkarten wurden von den Kartografen bisweilen um bildliche Darstellungen ergänzt. Sie enthielten dann Abbildungen von Menschen und Gebäuden, Tieren und Pflanzen, die eine Region oder Stadt anschaulicher machen sollten. Die topografische Aufsicht wurde um Silhouetten von Einzelheiten ergänzt, als würde an diesen Stellen eine Seite aufgeschlagen, um die benannten Orte und Gegenden illustrativ zu erläutern – gewissermaßen wird punktuell die verlorene Dimension der Seitenansicht zurückgewonnen. Wie manche Knipser umgekehrt ihre Alben mit Ausschnitten aus Straßenkarten ausstatten, damit sie sich später vergegenwärtigen können, welche Routen sie im Urlaub genommen haben und an welchen Plätzen die Aufnahmen entstanden sind.

Ähnlich verfährt Rolf Dieter Brinkmann in Rom, Blicke von 1979, wenn er zwischen die Aufzeichnungen zu einem Aufenthalt in der Stadt von 1972/73 mehrfach Teile aus einem Stadtplan einschiebt, die zurückgelegten Wegstrecken einzeichnet und um Fotos ergänzt. Dazu verwendet er – wie auch an anderen Stellen des Buches 6 – eigene Aufnahmen, die auf seinen Exkursionen entstehen, aber auch Ansichtskarten, die er erworben hat. Gelegentlich werden in die Karten Kommentare geschrieben und diese einzelnen Stellen zugeordnet: was Brinkmann gesehen hat, woran er gedacht hat. In diesen Collagen treffen sich die Künste der Belletristik, der Kartografie und Fotografie, die erinnerten und die angenommenen, die grafischen und fotografischen Bilder, öffentliche und private Ansichten. Sie alle begegnen sich auf gleicher Höhe, auf ihren Eigenarten beharrend und zugleich sich unterstützend, aufeinander weisend und gegenseitig kommentierend.

Google Earth ist etwas anderes. Es lässt der Phantasie keinen Spielraum.

22.6.2008

© Timm Starl 2009

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