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„Es war einmal: das bedeutet
märchenhaft nicht nur ein Vergangenes,
sondern ein bunteres und leichteres Anderswo.“
(Ernst Bloch, 1938/47) 1

The camera records
visual facts: i.e.,
all may be fictions.“
(W. H. Auden, um 1970) 2

„Es war einal“ ist ein passender Ansatz, wenn über Fotografie befunden wird. Nicht nur leitet die Wendung üblicherweise ein Märchen ein, wie ein Erzählerisches sich als notwendig erweist, um den sprachlosen Bildern Sinn zu verleihen. Denn von sich aus – ohne Identifizierung, Datierung und Kommentar – geben fotografische Bilder ihre Gegenstände und ihre Anlässe nicht frei: „Jede beliebige Fotografie bietet sich der Aneignung durch eine Reihe von ‘Texten’ an.“ 3 Von Natur aus eklektisch, sind Fotografien jeder Interpretation und jeder Anschauung dienlich. Man kann auch sagen: Fotografie/n existieren nur innerhalb eines Diskurses, zu dem auch die Bildunterschriften und ohnehin jeder Text über sie gehören. Es bedarf eines anderen Mediums, das Bilder hervorbringt, nämlich der Sprache, um fotografische Hervorbringungen überhaupt ‘lesbar’ zu machen. Mit Worten schaffen wir Vorstellungen von Erscheinungen, die uns geläufig sind und sich mit den fotografischen Bildern zur Deckung bringen lassen oder zumindest Ähnlichkeiten aufweisen. Dann stehen sich Foto- und Sprachbilder auf gleicher Augenhöhe gegenüber – beide zeigen etwas Früheres, das sie nicht sind.

Um dem Schweigen der Fotografien zu begegnen, um aus stummen Bildern beredte werden zu lassen, muss über sie gesprochen werden. Weil aber Sprechen wie Schreiben der Strukturierung bedarf, damit die Äußerungen verständlich werden, kann der Redner die Stimme heben oder senken, Betonungen setzen, kürzere und längere Pausen einfügen. Der schriftliche Befund bedient sich der Hervorhebungen und Satzzeichen, wobei der Punkt den stärksten Akzent setzt. Er beendet einen Gedanken und steht vor einem neuen. Ihm folgt eine leere Stelle, die etwas wie ein Atemholen kennzeichnet. Solche Unterbrechungen kennt das Foto nicht – es ist diese Unterbrechung: sowohl der Punkt, der etwas endgültig abschließt, wie jene Auslassung vor der nächsten Setzung. Als hätte die Zeit den Atem angehalten, um als Bild in Erscheinung zu treten.

[Frank] Grüttner: „Ceci n’est pas une photo“, 1996 [Frank] Grüttner: „Ceci n’est pas une photo“, 1996 Quelle

Mit „Es war einmal“ lässt sich jeder Diskurs zur Fotografie eröffnen. Weil aber die erzählte Vergangenheit vom Blickwinkel und der Wortwahl des Erzählers bestimmt wird und die tatsächliche Gegebenheit niemals exakt treffen kann, enthält sie neben Daten und Fakten zugleich Unbestimmtes und Unschärfen. Dies sind fotografische Formen der Begrenzung, der Einengung, des Verzichts, der Differenz gegenüber dem Realen, nachdem kein Bild seinen Gegenstand entsprechend seinen Proportionen beziehungsweise seiner Stellung innerhalb aller aufgenommenen Erscheinungen wiederzugeben vermag. Insofern erweist sich als treffend, worauf Rainald Gußmann verwiesen hat, „daß die Bildunterschriften für Photos ‘Legenden’ heißen.“4 Die Vagheit, die dem Begriff der Legende anhaftet, vermag den ‘Ungenauigkeiten’ der fotografischen Aufzeichnung Paroli zu bieten. Und zugleich der Abstraktion, die jede Fotografie darstellt, erfasst sie doch nicht mehr als den Schein dessen, was sie vorfindet.

„Es war einmal“ ist zudem erheblich offener als das „Es-ist-so-gewesen“ des Roland Barthes.5 Während „ist gewesen“ das Ende eines Vorganges im Augenblick hervorhebt, kündet das „war einmal“ zwar ebenso von einem nicht wiederholbaren Akt, setzt sich aber mit dem Imperfekt zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Damit werden nicht nur der Bildproduzent und sein Gegenstand ins Visier genommen, sondern auch der spätere Betrachter, dessen Blick erst eine endgültige Ansicht zutage bringt. So führt der narrative Einstieg in das weite Feld zwischen Produktion und Rezeption, zu einer einmal gefertigten Fotografie sowie den vielfältigen Bildern, die deren Anblick hervorruft.

Wenn es „nicht das Foto [ist], sondern die Distanz zwischen ihm und der Sache, in der die Imagination sich niederlässt“, wie es Herbert Molderings 1978 erkannt hat, dann muss ein weiterer Abstand zwischen dem Bildinhalt samt den Intentionen seines Schöpfers und den Vorstellungen des Betrachters, die sich aus seinen Erinnerungen nähren, Beachtung finden. Nicht im Bild, sondern zwischen den Bildern – der Fotografie, der Phantasie, der Sprache – eröffnen sich die Poesie der Fotografie wie die Entwürfe zur Geschichte und Theorie des Mediums. Karel Teige hat 1923 die Bilder des Augenblicks euphorisch vereint: „Das schönste Gedicht: Telegramm und FOTOGRAFIE.“6

6.6.2010

© Timm Starl 2010

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